von Sven Geitmann | Okt. 31, 2022 | 2022, Allgemein
Clean Logistics präsentiert H2-Truck in Stade
Die Präsentationen neuer Wasserstoff-Trucks werden immer spektakulärer: Nachdem bereits im Juni 2022 erst Faun in Bremen und dann Paul Nutzfahrzeuge in Vilshofen jeweils ihren neuen H2-Lkw vorgestellt hatten, zog Clean Logistics am 23. Juni nach. Paul Nutzfahrzeuge hatte in einem Hybrid-Event den PH2P mit viel Dampf und pompöser Musik einfahren lassen. Clean Logistics setzte noch einen drauf und veranstaltete auf dem Gelände des lokalen Flughafens vor 600 geladenen Gästen Wettrennen mit seinem neuen fyuriant.
Das Interesse war groß – sowohl seitens der Wirtschaft bei Spediteuren und Logistikern als auch seitens potentieller Investoren sowie der Medien. Alle wollten den ersten umgerüsteten H2-Truck von Clean Logistics angucken und zusehen, wie er sich bei den Beschleunigungswettfahrten gegenüber einem Diesel-Lkw schlägt. Um es gleich vorwegzunehmen: Bei der Beschleunigungswettfahrt – kommentiert von Formel-1-Moderator Kai Ebel – ließ die schwedische Technik-Influencerin Angelica Larsson mit dem fyuriant ihrer Kontrahentin Janina Martig im Diesel-Truck keine Chance.
Vom HyBatTruck zum fyuriant
Bei hochsommerlichen Temperaturen enthüllten die beiden Clean-Logistics-Gründer Dirk Lehmann und Dirk Graszt, liebevoll als H2D2 bezeichnet, die peppig lackierte wasserstoffbetriebene Zugmaschine. Ihnen zur Seite stand Prof. Klaus Bonhoff vom Bundesverkehrsministerium, ehemals Chef der Nationalen Organisation Wasserstoff- und Brennstoffzellen-Technologie. Beide Institutionen, BMVD und NOW, hatten das niedersächsische Kleinunternehmen seit 2017 begleitet und somit maßgeblichen Anteil am Zustandekommen dieses Spektakels.
Bonhoff erklärte dabei in offenen Worten, dass man „relativ wenig bisher erreicht“ habe im Fahrzeugbereich. Dann verwies er aber darauf, dass der jetzt vorgestellte H2-Lkw aus dem NIP-Förderprogramm HyBatTruck hervorgegangen sei und dessen Entwicklung mit 3,3 Mio. Euro Fördergeld unterstützt worden sei. 2017 hatte der Logistiker Dirk Graszt erste Gespräche geführt und dann Dirk Lehmann kennengelernt. Lehmann, der eigentlich Schiffbauer ist, hatte sich sofort begeistert gezeigt von der Idee, Langstrecken-Lkw auf Wasserstoffbetrieb umzurüsten. Damals war Lehmann Geschäftsführer der E-Cap Mobility GmbH, die neben maritimen Gefährten auch Straßenfahrzeuge elektrifiziert.
Die beiden Dirks taten sich zusammen und es entstand CL. Seitdem kümmern sie sich um die Umrüstung konventioneller Dieselfahrzeuge auf emissionsfreien H2-Antrieb. Nach Bussen führt das ehemals kleine niedersächsische Unternehmen ab sofort auch schwere Sattelzugmaschinen von 40 Tonnen im Programm.
„Die Nachfrage ist riesengroß“, konstatierte Graszt in Stade. Kein Wunder, denn nach dem Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) müssen die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor bis 2030 auf 48 Prozent des Niveaus von 2019 sinken. Das bedeutet, dass von den aktuell bundesweit 340.000 zugelassenen Lastwagen bis dahin rund 240.000 klimaneutral betrieben werden müssen.
„Wir starten mit einem Big Bang in eine neue Ära. […] Wir sind in der Lage, schon heute dem Markt emissionsfreie Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen. Dank des Umbaus klassischer Dieselfahrzeuge zu emissionsfreien Wasserstofffahrzeugen geschieht dies auch noch sehr ressourcenschonend. So werden wir den Wandel der Mobilität in eine nachhaltige Zukunft zügig vorantreiben.“
Dirk Graszt, CEO Clean Logistics
Neue CI – neues Logo
Bei der Premiere auf dem Flughafen Stade präsentierte sich die Clean Logistics SE in komplett neuem Design – mit neuer Corporate Identity: mit neuem Logo und sehr viel stärker international ausgerichteter Strategie. Lehmann sagte dazu: „Wir integrieren chinesische Technik.“ Der Grund dafür ist naheliegend: „Die sind uns in China sechs bis sieben Jahre voraus. […] Refire produziert vollautomatisch in Serie.“ Diese Komplimente gab Audrey Ma, Vizepräsidentin von Refire, sogleich zurück, indem sie sagte: „Clean Logistics hat Geschichte geschrieben, indem saubere Logistik für die Welt zugänglich gemacht wird.“
Überlänge ist ein Problem
Clean Logistics sieht sich als ein reiner Integrator. Die Komponenten werden zugekauft – seien es die beiden 120 kW leistenden Brennstoffzellen von Refire oder die 43 kg fassenden Wasserstofftanks, die direkt hinter dem Führerhaus übereinandergestapelt sind. Diese ermöglichen zwar eine Reichweite von über 400 km, machen das Fahrzeug gleichzeitig aber auch rund 60 Zentimeter länger.
Diese „Überlänge“ führt dazu, dass von Rechts wegen keine Serienzulassung möglich ist, sondern bislang nur Einzelzulassungen erteilt werden. Gegen diesen Bürokratieaufwand wehrt sich nicht nur Clean Logistics. Denn in Winsen an der Luhe sollen die Produktionskapazitäten massiv ausgeweitet werden. Aus der neuen Produktionshalle (Nutzfläche: 10.000 m2) heraus sollen ab Ende 2023 jährlich bis zu 450 Fahrzeuge den Hof verlassen.
EU-Typengenehmigung
Das Kraftfahrtbundesamt hat der zur Faun-Gruppe gehörenden Marke Eugenius, die in der HZwei-Ausgabe vom Juli 2022 vorgestellt wurde, die EU-Typengenehmigung erteilt, so dass deren Fahrzeuge ohne behördliche Auflagen europaweit für den Straßenverkehr zugelassen sind. Entwicklungsleiter Georg Sandkühler sagte: „Da unsere Typengenehmigung die erste weltweit erteilte für wasserstoffbetriebene Nutzfahrzeuge ist, bedeutet das zugleich, dass diese Art des Antriebs insgesamt einen großen Schritt nach vorne gebracht wurde.“ Die Eugenius-Lkw weisen allerdings auch keine Überlänge auf, weil die H2-Tanks ins Fahrgestell integriert werden.
Ziemlich genau vor einem Jahr hatte Clean Logistics bereits den ersten pyuron, einen auf H2-Antrieb konvertierten Bus, an die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft (UVG) übergeben. Seitdem befördert dieser Touristen im unteren Odertal.
Abb. 2: Ein besonderes Highlight hatte bei der Premierenfeier GP Joule zu bieten: André Steinau, Geschäftsführer von GP Joule Hydrogen, verkündete gegenüber HZwei, sein Mutterunternehmen habe gerade 40 Bauplätze für 40 fyuriant reserviert: „Wir werden mit der H2-Produktion, der Errichtung von H2-Tankstellen und dem Angebot von Fahrzeugen endlich das altbekannte Henne-Ei-Problem lösen.“
Abschließend stellte Prof. Klaus Bonhoff fest: „Es kann sich kein Lkw-Hersteller leisten, nicht H2-Trucks zu bauen.“
Paul Nutzfahrzeuge
Die Paul Nutzfahrzeuge GmbH macht es vergleichbar, aber doch ganz anders: Ähnlich wie Clean Logistics setzt Paul auf H2-Trucks. „Wasserstoff wird sich durchsetzen“, ist sich Vertriebsleiter Thomas Kotowski sicher. Bis 200 km – egal welche Tonnage – sei zwar batterieelektrisch effizienter, aber bei größeren Reichweiten kämen für ihn nur Retrofit- oder Brennstoffzellen-Lösungen infrage. Mit Anbietern wie Faun (s. HZwei-Heft Juli 2022) komme man sich aber nicht ins Gehege, da die Bremer mit Enginius eher kommunale Fahrzeuge auf der Kurz- und Mittelstrecke bedienten, Paul aber eher mittelschwere (12 bis 16 t) Lkw im Verteilverkehr anpeile. Insbesondere Paketdienste wie Hermes und DHL seien hier potentielle Ansprechpartner.
„Alles, was Mercedes nicht vom Band baut, bauen wir“, erklärte Kotowski gegenüber HZwei. Als Sonderfahrzeugbauer kümmert sich das Vilshofener Unternehmen sowohl um Oldtimer-Restaurierungen, als eben auch um alternative Antriebe. Angefangen hat Paul 2016 mit einem Werk, in dem jährlich 1.300 Fahrzeuge gebaut werden können. Um der wachsenden Nachfrage nach Sonderanfertigungen Genüge tun zu können, wird derzeit ein zweiter Standort vorbereitet, wodurch die gesamte Produktionskapazität auf 2.700 Fahrzeuge jährlich verdoppelt werden soll. An reinen H2-Trucks sind für 2022 zunächst 22 Exemplare vorgesehen, 2023 rund 150 und 2025 pro Jahr 500. Wohlgemerkt alle an Einzelarbeitsplätzen. „Wir sind eine Manufaktur“, sagt Kotowski – nicht ohne Stolz.
Kooperationspartner Shell steuert dafür die H2-Tankstellen bei. 2023 werden es voraussichtlich acht. Als Technologielieferant steht Maximator parat. Obwohl Shell finanzstark sei, schlage eine H2-Station mit zwei Zapfsäulen mit rund 3 Mio. Euro stark zu Buche, selbst wenn das Druckniveau „nur“ 350 bar betrage, so Kotowski. Aber wenn mehrere H2-Trucks befüllt werden sollten, könne sich die Fördermenge schnell auf 1 t Wasserstoff pro Tag belaufen.
Paul kümmert sich parallel dazu um den Service-Bereich. „Alles, was kaputt geht, wird ausgetauscht“, erklärt der Key Account Manager. Gleichzeitig weist er daraufhin, dass nur geschultes Personal alternativ angetriebene Fahrzeuge anfassen darf – angesichts des Fachkräftemangels durchaus ein Flaschenhals. Zudem sei ein Werkstattumbau mit rund 200.000 Euro kostenintensiv.
Autor: Sven Geitmann
Abb. 1: Fulminanter Auftritt des fyuriant
von Sven Jösting | Okt. 31, 2022 | 2022, Allgemein
Interview mit Prof. Werner Tillmetz
Seit zig Jahren begleitet Prof. Werner Tillmetz nicht nur die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnik, er hat sie auch an unterschiedlichen Stellen ganz entscheidend mitgeformt – sei es als Vorstand des Zentrums für Solar- und Wasserstoffforschung (ZSW) oder bei der Formulierung des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP). Sven Jösting sprach für die HZwei mit Prof. Tillmetz, der nach seiner Pensionierung mit h2connect.eco ein H2-Netzwerk für die Bodenseeregion gegründet hat, und bat ihn um eine Einordnung der derzeitigen Entwicklungen.
HZwei: Prof. Tillmetz, Sie haben Ihr Leben der Brennstoffzelle gewidmet, wie man in sehr schöner Weise in Ihrem Buch „Wasserstoff auf dem Weg zur Elektromobilität“ lesen kann. Wo stehen wir heute bei der Brennstoffzelle in der Mobilität?
Interessanterweise habe ich an allen Themen – der Elektrolyse, der Brennstoffzelle und der Batterie – etwa gleich viel gearbeitet, und das in ganz unterschiedlichen Unternehmen und in der Forschung. Ein ganz spannender Erfahrungsschatz. Bei der Brennstoffzelle in der Mobilität ist es faszinierend, die inzwischen sehr breite und weltweite Industrialisierung zu verfolgen. Asiatische Firmen haben die Serienproduktion gestartet, aber auch deutsche und europäische Unternehmen sind inzwischen sehr erfolgreich dabei. Technologisch sind Brennstoffzellen reif für den Markt.
Sie sind eng mit der Entwicklung bei der kanadischen Ballard Power verbunden – unter anderem auch via Kooperationen mit Ford, Daimler und Co. Können Sie unseren Lesern kurz beschreiben, wie Sie Ballard heute einschätzen?
In den 1990er Jahren habe ich als einer der Pioniere die Aktivitäten in diesen Firmen aktiv mitgestaltet. Seit 2003 verfolge ich die Aktivitäten sehr intensiv von außen und habe immer noch gute Kontakte in die Szene. Bei der Beurteilung von Firmen wie Ballard gibt es einerseits die technologische Sichtweise. Da gehört Ballard nach wie vor zu den führenden Akteuren. Entscheidend ist aber immer die wirtschaftliche Entwicklung. Da stimmen mich die Quartalsberichte der verschiedenen börsennotierten Wasserstoff-Start-up-Unternehmen schon nachdenklich: Mit ganz wenigen Ausnahmen sind seit zwanzig Jahren die Verluste ähnlich hoch wie die Umsätze. Allerdings entwickelt sich der Markt erst seit kurzem so richtig gut, primär getrieben durch die weltweiten Gesetzgebungen zum Klimaschutz. Auch die Zahl der Übernahmen und die damit verbundenen Bewertungen sind beeindruckend.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der Batterie ein? Warum setzt vor allem die Kfz-Industrie auf die batterieelektrische Mobilität und versucht Tesla zu kopieren?
Das ist ein ganz spannendes Phänomen. Die Fahrzeugindustrie hat es in den letzten Jahren nicht mehr geschafft, die globale Gesetzgebung zu den Emissionen einzubremsen. Gleichzeitig kam mit Tesla ein zunächst belächelter Konkurrent auf den Markt, der den etablierten Firmen zunehmend Umsatz in den margenträchtigen Segmenten weggenommen hat. Schnelles Handeln war angesagt, und reflexartig haben die Strategen sich gesagt, das, was Tesla kann, können wir auch. Da haben sie sich über- und Tesla unterschätzt.
Bei E-Fahrzeugen sind Energieverbrauch und Ladeinfrastruktur entscheidend. Beides hat Tesla hervorragend gemeistert, während die großen Autokonzerne beispielsweise versuchen, das Thema Ladeinfrastruktur an den Staat und die Energieversorger zu delegieren. Bei den Milliardengewinnen könnten sie das auch selber machen – aber Profit hat halt Vorrang.
Zwei weitere große Hürden für die Batterie werden immer sichtbarer: Woher sollen die ganzen Rohstoffe kommen und wie kann man bedarfsgerecht den grünen Strom zum (schnellen) Laden überhaupt bereitstellen?
Es gibt verschiedene Modelle, Wasserstoff in Kraftfahrzeugen zum Einsatz zu bringen. Da werden auch Modelle vorgestellt, bei denen Ammoniak, Methanol oder Wasserstoff (flüssig oder gasförmig) direkt im Motor zum Einsatz kommen soll – ohne den Umweg über die Brennstoffzelle. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Gibt es da einen Gewinner?
Generell sollten wir technologieoffen sein und die Ingenieure die besten Lösungen entwickeln lassen. Der Gesetzgeber darf nur die Leitplanken wie Emissionen definieren. Aus meiner Sicht gibt es zwei entscheidende Themen: Die Effizienz des Antriebes und die Verfügbarkeit des grünen Kraftstoffes an der „Tankstelle“.
Für den dynamischen Betrieb der Fahrzeuge haben E-Motoren mit einer Batterie enorme Vorteile – diese Effizienz schafft ein mechanischer Antrieb nicht. Die (kleine) Batterie kann aber von einem Motor oder einer Brennstoffzelle während der Fahrt aufgeladen werden (serieller Hybrid) und dann im Bestpunkt betrieben werden.
Zur Versorgung mit dem Kraftstoff: Wasserstoff kann idealerweise direkt regional erzeugt werden oder europaweit per Pipeline aus sonnen- und windreichen Regionen zur Tankstelle transportiert werden. Für den kostengünstigen Überseetransport von Energie aus den vielen Sonnengürteln der Welt ist ein bei Umgebungstemperatur flüssiger und einfach herstellbarer Kraftstoff ideal: Methanol. Bei Stromkosten von kleiner 1 Ct/kWh spielen die Verluste bei der Erzeugung eine sehr untergeordnete Rolle. Wir stehen noch ganz am Anfang eines Marathonlaufes – erst am Ziel hat sich der Weizen von der Spreu getrennt.
Weltweit ist ein Wettbewerb entbrannt. Welche Länder haben da Ihrer Meinung nach das bessere Konzept?
Die deutsche und europäische Politik ist strategisch nicht sehr durchdacht und an vielen Stellen ideologisch geprägt. Dazu kommen die sehr diskussionsfreudige Gesellschaft und basisdemokratische Strukturen, die vieles sehr langsam machen. Auf der anderen Seite gibt es hier exzellente, kreative Ingenieure und Fachkräfte und eine solide industrielle Infrastruktur, insbesondere mit den vielen langfristig denkenden Familienunternehmen. Asiatische Länder haben vielfach eine besser durchdachte Strategie und sind in der Umsetzung sehr viel schneller. Zu guter Letzt kommt noch Kalifornien mit extrem viel Kapital und Risikobereitschaft dazu – Letztere ist uns in Deutschland so ziemlich abhandengekommen.
Kommen wir zur Ladeinfrastruktur: Stromladestationen versus Wasserstofftankstellen. Wie sollte es Ihrer Meinung nach sein? Gibt es dazu kritische Sichtweisen beziehungsweise Visionen Ihrerseits?
Batterieelektrische Fahrzeuge werden am besten dann und dort geladen, wo es direkt grünen Strom gibt und die vollgeladene Batterie für einige Tage fahren ausreicht – auch wenn mal keine Sonne scheint oder kein Wind weht. Das kann auch beim Arbeitgeber sein, wenn der beispielsweise die Parkplätze mit Photovoltaik ausrüstet oder kleine Windmühlen auf dem Dach montiert. Für alle Vielfahrer, Stadtbusse, Transportunternehmen ist schnelles, flexibles Tanken ganz entscheidend: grünen Wasserstoff oder grünes Methanol kann man immer und überall tanken.
Wo sehen Sie die Brennstoffzelle im Pkw? Was Nutzfahrzeuge betrifft, ist man ja mittlerweile überzeugt, dass bei der Langstrecke die Brennstoffzelle im Vorteil gegenüber der Batterie ist. Wie verhält es sich bei Personenwagen? Anmerkung: Es gibt Gerüchte, Apple Computer könnte 2024 mit einem iCar auf den Markt kommen, welches eine kleine Batterie für die Kurzstrecke und die Brennstoffzelle (H2) für die Langstrecke zum Einsatz bringt. Halten Sie das für realistisch?
Moderne Brennstoffzellenantriebe inklusive der Tanks sind deutlich leichter und kleiner als eine Batterie, für die oft geforderten Reichweiten. Der Unterschied zum klassischen Verbrenner ist kaum noch da. Dagegen mehr als 600 kg Batterie in einen Pkw oder bis zu fünf Tonnen in einen Lkw einzubauen macht wirklich keinen Sinn. Das Konzept von Apple ist gut und wird auch schon für die Transporter von Renault und den Stellantis-Marken kommerziell angeboten.
Welche Länder haben bei der Brennstoffzelle die Nase vorn und warum?
Das sind mehr die Firmen als die Länder. Toyota und Hyundai gehen beide mit ihrem jeweiligen Produkt (Brennstoffzellensystem) in ganz viele Anwendungen und Märkte. Das bringt Stückzahl und reduziert damit Kosten. Bosch hat eine sehr überzeugende Strategie und wird sehr schnell seine weltweiten Partner beliefern. Die französischen Autokonzerne haben sich mit strategischen Partnern gut aufgestellt, und natürlich die vielen chinesischen Firmen, die am schnellsten in die ganz großen Stückzahlen gehen werden.
Können Sie bitte ein Zukunftsszenario für die Brennstoffzelle und Wasserstoff entwickeln? Wo stehen wir heute, in fünf Jahren, in zehn Jahren und 2040 Ihrer Meinung nach in Sachen Wasserstoff und Brennstoffzelle, aber auch bei der Batterie?
Wir stehen ganz am Anfang eines Marathonlaufes. Die Veränderungen werden so dramatisch sein wie vor mehr als hundert Jahren, als Henry Ford mit seiner Benzinkutsche die Pferdkutschen ablöste und der Verbrennungsmotor die folgenden hundert Jahre die Welt komplett veränderte. Bei disruptiven Innovationen sind die Veränderungen extrem schnell und kaum vorhersagbar, wie uns auch das Beispiel von Kodak und der digitalen Fotografie gezeigt hat. Die Batterie allein wird nicht der Glücksbringer für alles, wie vor kurzem Bosch-Chef Hartung sehr deutlich gemacht hat. Um die Klimaveränderung überhaupt noch in den Griff bekommen zu können, brauchen wir alle Optionen und vor allem mehr Handeln als Diskussion.
Was müsste die Politik (Deutschland, EU) tun, um der Brennstoffzelle und dem Wasserstoff Auftrieb zu geben in der Mobilität?
Technologieoffen sein und eine ganzheitlich durchdachte Strategie haben. Dazu hilft es, öfter mal aus dem Fenster zu schauen, um festzustellen, ob es gerade genügend Sonne oder Wind gibt, um die Energieversorgung für alle Verbraucher sicherzustellen.
Interviewer: Sven Jösting
Kommentar zur Wirkungsgrad-Debatte
Bezugnehmend auf die E-Fuel-Kommentare aus HZwei-Heft April 2022
„Efficiency first“ oder „Der Wirkungsgrad ist entscheidend“ – so lauten unzählige Schlagzeilen. Dies wird dann untermauert mit Grafiken, die alle aufzeigen, dass E-Fahrzeuge mit batterieelektrischen Antrieben dramatisch viel besser sind als E-Fahrzeuge mit Brennstoffzelle und Wasserstoff. Und die E-Fuels rangieren weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Häufig wird dann noch der Wirkungsgrad (Kraftstoff- oder Energieverbrauch) des Fahrzeuges mit der vorgelagerten Kette (Kraftstofferzeugung) vermischt. Der Abgleich mit der Realität lässt fast durchweg zu wünschen übrig.
Den Energieverbrauch am Fahrzeug zu vergleichen, sollte eigentlich recht einfach sein, solange man auch ähnliche Fahrzeuge miteinander vergleicht. Der Verbrauch steht auf den Verkaufsprospekten und wird nach gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien ermittelt – leider in unterschiedlichen Einheiten: Strom in Kilowattstunden, Wasserstoff in Kilogramm und flüssige Kraftstoffe in Liter, ohne deren Heizwert zu berücksichtigen.
Die reale Welt des Verbrauches kann man dann in vielen Fahrberichten nachlesen. Dabei stellt man schnell fest, dass der 20- bis 30-prozentige Vorteil der Batteriefahrzeuge im Winter, wenn sowohl Fahrgastraum wie Batterie (zum Schnellladen) geheizt werden müssen, weitestgehend verschwindet.
Jetzt zur vorgelagerten Kette der Strom- oder Kraftstofferzeugung: Hier wird fast immer davon ausgegangen, dass der Strom zum Laden der Batterie direkt von der Photovoltaik oder der Windkraftanlage kommt. Dass nachts keine Sonne scheint, auch nicht bei Regen, Schnee oder Nebel, wird interessanterweise ausgeblendet. Auch der Wind weht nicht immer, vor allem im Süden Deutschlands. Wird der Strom zum Laden der Batterie über eine Gasturbine (Wirkungsgrad: 40 %) aus Erdgas und künftig aus Wasserstoff erzeugt, dann ist es schnell vorbei mit dem ersten Platz beim Wirkungsgrad. Wasserstoff direkt in einem Brennstoffzellenfahrzeug zu nutzen ergibt da mehr Sinn.
Das gilt auch, wenn wir 100 Prozent grünen Strom haben: An vielen Tagen gibt es sehr viel mehr Strom aus Wind oder Sonne, als wir brauchen. Vor allem in den Wintermonaten gibt es dann tagelang weder Wind noch Sonne. Dann braucht es den Strom aus den wind- und sonnenreichen Zeiten des Jahres. Die Speicherung so großer Energiemengen ist aber nur über Wasserstoff wirtschaftlich machbar.
Heute importieren wir zwei Drittel unserer Energie (Öl, Gas und Steinkohle). 100 Prozent Eigenversorgung ist in Deutschland zwar theoretisch möglich, in der Realität aber eher unwahrscheinlich. Die grüne Energie aus sehr sonnen- und windreichen Regionen zu importieren ergibt ökonomisch viel Sinn. Der Transport über Stromleitungen wird sich allerdings auf bestimmte Regionen wie die Nordsee beschränken. Das vorhandene europäische Gasnetz für den Transport von grüner Energie in Form von Wasserstoff zu nutzen, ist mehr als naheliegend. Für den Überseetransport werden flüssige Energieträger wie Methanol oder Kerosin (E-Fuels) unschlagbar attraktiv. Diese dann direkt für den Antrieb zu verwenden, ist sehr viel effizienter, als dann daraus wieder Strom zu machen.
Die grüne Energieversorgung der Zukunft zu Ende gedacht, kommt man zu einem ganz anderen Schluss, als die meisten Schlagzeilen heute suggerieren: Strom, Wasserstoff und E-Fuels sind alles sinnvolle grüne Energieträger.
Autor: Prof. Werner Tillmetz
Abb. 1: Prof. Werner Tillmetz
von Sven Geitmann | Okt. 31, 2022 | 2022, Allgemein
Südkorea will Krisen als Chance nutzen
Krisen als Chance zu sehen und nutzen zu wollen ist eine in Südkorea weit verbreitete Sichtweise. Durch massive Investitionen in die Wasserstofftechnologie und -wirtschaft will das Land dem Bedarf einer klimaneutralen Industrie und Energiewirtschaft nachkommen. Analog zur Entwicklung in der Halbleiterindustrie will Südkorea an seine Erfolgsgeschichte der Adaption und Entwicklung disruptiver Technologien anknüpfen. Hierbei geht der asiatische Staat sehr pragmatisch vor: Vor das Endziel der zu erreichenden Klimaneutralität wird die Schaffung einer positiven Marktdynamik gestellt.
Dieser Pragmatismus ist neben der strukturellen Pfadabhängigkeit der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich für eine langfristige Strategie parteiübergreifend einigen konnte. Auch wenn die Grundzüge der Energiepolitik feststehen, bleibt abzuwarten, wie die jüngst neugewählte konservative Regierung den politischen Rahmen ausfüllen wird.
Ähnlich wie in Europa ist hier die Taxonomie des sauberen Wasserstoffes ein großes Thema. Wie in vielen europäischen Ländern zeichnen technische, aber auch politische Pfadabhängigkeiten hier den Weg der zukünftigen Farblehre des als sauber geltenden Wasserstoffes vor. Aktuelle politische Geschehnisse, wie jüngst die Wahl der konservativen Regierung, beeinflussen die Entwicklung im Detail.
„Korea New Deal“ schafft Rahmenbedingungen
Der Ausbruch der Corona-Pandemie bremste das weltweite Wirtschaftsgeschehen so stark, dass stellenweise ein deutlicher Rückgang der Umweltbelastungen gemessen wurde. Allerdings war der wirtschaftliche Einfluss der Pandemie für viele Menschen noch deutlicher spürbar, was vor allem für die USA zutrifft. Um kurzfristig der wirtschaftlichen und sozialen, aber langfristig auch der ökologischen Krise zu begegnen, initiierten die USA 2019 einen auf die langfristige Dekarbonisierung der Wirtschaft abzielenden „Green New Deal“. Die Idee, die wirtschaftliche und ökologische Krise als Chance für eine nachhaltigere Entwicklung zu sehen, war unverkennbar.
Diese Idee traf auch in Südkorea auf fruchtbaren Boden, wo man ohne Lockdown, ohne hohe Übersterblichkeit und mit nur minimalem Wirtschaftseinbruch vergleichsweise gut durch die Pandemie kam. Der damalige liberale Präsident Moon präsentierte am 14. Juli 2020 den „Korea New Deal“, welcher bis 2025 ein Gesamtinvestitionsvolumen von umgerechnet insgesamt 117 Mrd. Euro vorsieht, wovon allein 84 Mrd. aus der Staatskasse und der Rest aus der Wirtschaft kommen sollen.
Von der Gesamtsumme sind mehr als 53 Mrd. Euro für eine klimagerechte Umstrukturierung der Industrie, der Energieerzeugung und der Wohninfrastruktur eingeplant. Der Rest entfällt im weitesten Sinne auf Digitalisierung und Bildung. Der „Korea New Deal“, in dessen Plan explizit auch Wasserstoff als Energieträger und H2-Technologie als Werkzeug mehrfach Erwähnung finden, ist der politische Rahmen, in dem sich das staatlich induzierte Projekt des Aufbauens einer H2-Wirtschaft bewegt.
Roadmap zur koreanischen H2-Wirtschaft
Die im Mai dieses Jahres abgewählte liberale Regierung hatte bereits im Januar 2019 ihre Roadmap zur Aktivierung der Wasserstoffwirtschaft vorgestellt. Mit Bezug auf die McKinsey-Studie zum Marktpotential der Wasserstoffwirtschaft bis 2050 wird der Aufbau einer H2-Wirtschaft mit eigener Technologie als riesige Chance beschrieben. Neben dem erhofften Wirtschaftswachstum durch Markpartizipation werden vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen im Mittelstand, eine mögliche Technologieführerschaft, die damit verbundene Chance auf weitere Direktinvestitionen aus dem Ausland sowie ein schrittweiser Abbau der riesigen Abhängigkeit von fossilen Energieimporten erwartet.
Darüber hinaus besteht die Hoffnung auf massive Einsparungen bei Treibhausgas- sowie Feinstaubemissionen. Zwar kann Südkorea auf keine lange Tradition in der Wasserstofftechnologie zurückblicken, dafür jedoch ist man mit der schnellen Adaption und Entwicklung von disruptiven Technologien vertraut und dementsprechend motiviert. Konkret werden für 2040 folgende Ziele genannt:
Bereich |
zu erreichen bis 2040 |
Mobilität |
|
weltweit
(Export- und Binnenmarkt) |
Binnenmarkt |
Wasserstofffahrzeuge insg. |
6,2 Mio. |
2,9 Mio. |
davon Pkw |
5,9 Mio. |
2,75 Mio. |
davon Taxis |
1,2 Mio. |
0,8 Mio. |
davon Lkw |
1,2 Mio. |
0,3 Mio. |
davon Busse |
0,6 Mio. |
0,4 Mio. |
Wasserstofftankstellen |
keine Angabe |
mehr als 1,200 |
Energieerzeugung
(Brennstoffzellenkapazität) |
industrielle Erzeugung |
15 GW |
8 GW |
private Erzeugung |
keine Angabe |
2,1 GW |
Wasserstoffversorgung |
Wasserstofferzeugung insg. (Bedarf) |
keine Angabe |
5,26 Mio. tpa |
Partielle Oxidation (H2 als Nebenprodukt) |
keine Angabe |
zusammen ca. 70 % Anteil |
Reduktion aus CH4 |
keine Angabe |
Elektrolyse |
keine Angabe |
Import CO2-neutraler Wasserstoff (Australien, Norwegen, Saudi-Arabien) |
ca. 30% Anteil |
keine Angabe |
H2-Zielpreis (umgerechnet) |
keine Angabe |
2,20 €/kg |
Wasserstoff ist Gesetz(t)
In den Augen westlicher Beobachter mag es sich zweifelsfrei um sehr ambitionierte oder gar unrealistische Ziele handeln, für die abzuwarten gilt, ob sie wirklich erreicht werden können. Allerdings muss bei der Bewertung bedacht werden, dass die südkoreanische H2-Industrie in einen ganz anderen gesetzlichen und politischen Rahmen eingebettet ist als die europäische. So regelt das im Februar 2020 verabschiedete Wasserstoffgesetz als weltweit erstes Gesetz dieser Art in aktuell acht Kapiteln und 62 Artikeln wichtige Eckpunkte zur systematischen Entwicklung der H2-Wirtschaft. Zudem setzte die damalige Regierung mit dem nationalen Hydrogen Council auch eine Expertenkommission zur Steuerung und Kontrolle der politischen Inhalte und Prozesse rund um das Thema H2-Technologie und -wirtschaft ein.
Als erster wichtiger Eckpunkt des Wasserstoffgesetzes kann der gesetzliche Rahmen der staatlich geförderten „Wasserstoff-Spezialunternehmen“ genannt werden. Diese werden als KMU definiert, welche je nach Gesamtumsatz zwischen 10 und 50 Prozent ihres Umsatzes durch H2-Technologie generieren und 3 bis 15 Prozent in H2-Technik-relevante F&E-Tätigkeiten investieren (vgl. Kapitel 1, Artikel 2, Absatz 3). Um Unternehmen für die neu geschaffene Zertifizierung wie auch für das nationale Projekt der H2-Industrie zu gewinnen, sieht das Gesetz diverse Anreize vor. Hierzu zählt beispielsweise eine finanzielle Unterstützung von mehr als 100.000 Euro pro Unternehmen, welche in Form von technischer Unterstützung (Entwicklung, Zertifizierung, Patentanmeldung etc.) oder kaufmännischer Unterstützung (Werbung, Messe-Teilnahme, Marktforschung, Designentwicklung, Markenentwicklung etc.) geleistet werden kann (vgl. Kapitel 3, Artikel 9).
Darüber hinaus werden zertifizierte Unternehmen von der H2Korea, einer von Staat und Wirtschaft finanzierten Beratungsorganisation zur Förderung der Wasserstoffwirtschaft, welche im H2-Gesetz ebenfalls Erwähnung findet (Kapitel 5, Artikel 33), beraten und unterstützt. Des Weiteren wurde festgelegt, dass der Gesetzgeber die meist staatlichen Energieversorger zum Ausbau von H2-Fertigungs- und -Nutzungskapazitäten anhalten kann (vgl. Kapitel 4. Artikel 19-21).
Um den Ausbau und die Entwicklung einer Infrastruktur samt Test- und Entwicklungseinrichtung anzukurbeln, setzt der Gesetzgeber zudem auf die Ausweisung von „Wasserstoffsonderzonen“ (Kapitel 4, Artikel 22). Hier geht es vor allem um die Schaffung von Industrieclustern, in denen sich sowohl Unternehmen als auch Forschungs- und Bildungseinrichtungen ansiedeln können, um Synergien und Übertragungseffekte zwischen den Akteuren zu generieren. Das Gesetz schafft hier einen Rahmen, um entscheiden zu können, wo eine Kennzeichnung als Sonderzone stattfindet und in welchem Umfang finanziert wird. „Wasserstoffsonderzonen“ sind aktuell vor allem in der nordöstlichen Kangwon-Provinz, der südöstlichen Kyeongsang-Provinz, der südwestlichen Jeolla-Provinz und der nordwestlichen Industriestadt Incheon geplant.
Im gleichen Kontext wird der Ausbau von H2-Demonstrationsprojekten gesetzlich festgeschrieben (Kapitel 4, Artikel 24). Um auf der Versorgungsseite für Preisstabilität zu sorgen, verpflichtet der Gesetzgeber die Gasversorger dazu, Erdgas, welches zur Reformierung eingesetzt wird, zu einem gedeckelten Preis zu handeln (Kapitel 4, Absatz 25). Konkrete Quoten wurden allerdings noch nicht festgelegt. Als weitere Eckpunkte können beispielsweise noch die Ausbildung von Fachkräften (Kapitel 5, Absatz 26), die Schaffung von gültigen Industriestandards (Kapitel 5, Absatz 27) sowie die Schaffung von Akzeptanz in der Bevölkerung (Kapitel 5, Absatz 31) genannt werden. Primär geht es um die Schaffung von Regeln rund ums Sicherheitsmanagement der neuen Technologie.
Korea H2 Business Summit
Dass das nationale Projekt Wasserstoff nicht bloß von der Regierung verordnet wird, sondern auch von der Wirtschaft getragen wird, zeigt der Korea H2 Business Summit, welcher erstmals im September 2021 in Südkorea abgehalten wurde. Bei den 17 Gründungsmitgliedern dieses Zusammenschlusses handelt es sich um führende nationale Konzerne und Firmen, welche im Bereich der H2-Technologie Kooperationen eingehen wollen. Viele dieser Konzerne haben bereits Gelder in Milliardenhöhe zugesagt. Laut Medienberichten soll sich die Investitionssumme bis zum Jahre 2030 auf umgerechnet mehr als 31 Milliarden Euro belaufen.
Konzerne investieren Milliarden
Hierbei sticht besonders der Mischkonzern SK Group hervor, welcher in den nächsten Dekaden zu einem der relevanten H2-Produzenten aufsteigen will. Umgerechnet mehr als 13,5 Mrd. Euro sollen bis 2030 in den Aufbau von Produktionskapazitäten von mehr als 250.000 Tonnen pro Jahr fließen. So soll an der mit einem LNG-Terminal ausgestatteten Westküstenstadt Boryeong beispielsweise die weltgrößte H2-Fabrik entstehen. SK setzt zum jetzigen Zeitpunkt vorwiegend auf die Herstellung von kostengünstigem blauem Wasserstoff, die den Ausbau der gesamten Wertschöpfungskette von Mobilität bis Energiegewinnung beschleunigen soll. Folgerichtig investiert SK auch in den Ausbau von Tankstellen und Brennstoffzellenkapazitäten. Das Unternehmen hat zudem bereits signalisiert, auch in Produktionskapazitäten für grünen Wasserstoff investieren zu wollen.
Auch der Automobilhersteller Hyundai bekennt sich mit einem Gesamtinvestment von umgerechnet mehr als 8 Mrd. Euro bis 2030 nochmals deutlich zur H2-Mobilität. Trotz des andauernden Verkaufserfolges seines wasserstoffbetriebenen Nexo-Modells gab der Konzern vor Kurzem überraschenderweise bekannt, die Entwicklung des Folgemodells Genesis auf Eis zu legen, was die Aktienkurse zahlreicher Zulieferfirmen in Mitleidenschaft zog. Hyundai klärte jedoch auf, dass sich lediglich Verzögerungen durch eine interne Umstrukturierung der Entwicklung ergeben hätten und dass man am H2-Kurs festhalte.
Aktuell arbeitet der Automobilhersteller an einer kompakten 100-kW-Brennstoffzelle, welche gegenüber der im Nexo verbauten 200-kW-Brennstoffzelle gut 30 Prozent Raumeinsparung und etwa 50 Prozent Preiseinsparung einbringen könnte. Dadurch ließe sich nicht nur der Anwendungsbereich in der Mobilität deutlich erweitern, sondern auch der potenzielle Kundenkreis. Neben der Weiterentwicklung des H2-Mobilitätsportfolios arbeitet Hyundai vor allem auch am wichtigen Ausbau der Tankstelleninfrastruktur mit.
Als weiteres namhaftes Mitglied des Korea H2 Business Summit plant Stahlriese POSCO bis 2030 umgerechnet mehr als 7 Mrd. Euro Investitionen in Wasserstoff. POSCO baut einerseits Industrieanlagen für die Gewinnung von grauem und blauem Wasserstoff, will aber längerfristig auch Kapazitäten für grünen Wasserstoff schaffen. Zudem will der Konzern seine Kernkompetenz der Stahlherstellung dekarbonisieren und setzt hierbei auf den Ausbau der H2-Direktreduktion, die bereits seit 2003 unter dem Markennamen Finex vorangetrieben wird. Bis 2050 will das Unternehmen seine Produktion komplett auf H2-Direktreduktion umgestellt haben.
Eines der Großunternehmen, das weitaus stärker auf grünen Wasserstoff setzt, ist die Hanhwa Group. Diese hatte sich mit der Übernahme des deutschen Photovoltaikunternehmens Q Cells im Jahre 2012 bereits im Bereich der erneuerbaren Energien positioniert und hier die Marktführerschaft erlangt. Rund um das PV-Portfolio will Hanhwa nun auch in Elektrolysetechnologie investieren und setzt hier auf neuartige Anionen-Austausch-Membran-Elektrolyseure (AEM).
Als weiteren Schritt in der Wertschöpfungskette arbeitet die Chemiesparte des Konzerns aktuell an der Entwicklung einer Gasturbine zur Verstromung eines LNG-LH2-Gemisches. Um diese Entwicklung voranzutreiben, übernahm Hanhwa erst im vergangenen Jahr den US-amerikanischen Turbinenhersteller Power Systems Mfg. sowie die niederländische Energietechnikfirma Thomassen Energy. Bis 2023 will Hanhwa die ersten Turbinen an koreanische Netzbetreiberfirmen ausliefern, welche dann mit einem H2-Anteil von mehr als 50 Prozent im Gasgemisch die Treibhausgasemissionen deutlich senken sollen. Mit einem Investitionsvolumen von umgerechnet knapp einer Milliarde Euro bis 2030 will Hanhwa zu einem relevanten Player der H2-Wirtschaft avancieren. Hier gibt es bereits erste Erfolgsanzeichen: Nach Medienberichten soll Hanhwa erst kürzlich einen Auftrag vom deutschen Versorger Uniper erhalten haben.
Auch die Hyosung Group, welche durch ihre Kooperation mit Linde ebenfalls Schlagzeilen machte, setzt weiter auf Wasserstoff. Mehr als umgerechnet 800 Mio. Euro will der Konzern bis 2030 investieren. Bereits im Jahre 2008 baute Hyosung die erste H2-Tankstelle in Südkorea. Mit insgesamt mehr als 20 Tankstellen ist das Unternehmen heute Marktführer im Land. Doch Hyosung will mehr: Mit der Partnerschaft mit Linde will der Konzern im großen Stil in die LH2-Produktion einsteigen. Bis Mitte 2023 soll die Fabrik mit einer jährlichen Produktionsleistung von 13.000 Tonnen anlaufen. Die Kooperation deckt auch die Entwicklung der Kryopumpen-Technologie ab, welche für das Tanken des flüssigen Wasserstoffes unerlässlich ist.
Darüber hinaus will der Konzern als Hersteller von Karbonfaser-Gewebe auch indirekt am Markt für Wasserstofftanks, welche in der Regel aus Faserverbundstoff bestehen, partizipieren. Die Einsparung von Treibhausgasemissionen, etwa durch die Herstellung von grünem Wasserstoff im Elektrolyseverfahren oder durch die Speicherung und Verarbeitung von CO2, ist ein längerfristiges Ziel von Hyosung.
Firma |
Industriebereich |
Investitions-
summe
(in Mrd. € / bis 2030) |
Investitionsbereich |
Ziel |
SK Group |
Mischkonzern (Energie, Chemie, IT etc.) |
13,5 |
- Wasserstofffabrik (erst „blau“, später „grün“)
- Wasserstoff-Verflüssigungsanlage
- Ausbau von Brennstoffzellenkapazitäten
- Ausbau von Tankstelleninfrastruktur
|
- H2-Produktion von 250.000 tpa (bis 2025)
- Aufstieg zum größten H2-Produzenten
- Bau von mehr als 100 H2-Tankstellen (bis 2025)
- Schaffung von mehr als 400 MW Brennstoffzellenkapazität
|
Hyundai Motor Company |
Automobilhersteller |
8,2 |
- H2-Fahrzeuge
- H2-Mobilitätsinfrastruktur
|
- Umstellung auf H2-Mobilität bis 2040
- weltweit Platz 1 im Bereich Wasserstoff-Mobilität
|
POSCO (Pohang Iron and Steel Company) |
Stahlhersteller |
7,3 |
- CH4-Reformierung (blauer Wasserstoff)
- Herstellung von grünem Wasserstoff im Ausland
- Stahlherstellung durch H2-Direktreduktion (FINEX-Produkt)
|
- Umstellung auf H2-Direktreduktion bis 2050
- Graue H2-Produktion von 700.000 tpa (bis 2025)
- Blaue H2-Produktion von 5.000.000 tpa (bis 2030)
- Grüne H2-Produktion von 50.000.000 tpa (bis 2050)
|
Hanhwa Group |
Mischkonzern (Chemie, Rüstung, IT, Schwerindustrie etc.) |
0,96 |
- Neuartige Elektrolyseure
- Gasturbinen zur Verstromung von Mischgas
|
- Aufbau einer vollständigen H2-Wertschöpfungskette (Solarzellen, Elektrolyseure, H2-Tanks, Tankstellen, Brennstoffzellen)
|
Hyosung Group |
Mischkonzern (Chemie, Maschinenbau, IT etc.) |
0,88 |
- LH2-Wasserstofffabrik
- kyrogene Pumpentechnologie für H2
- Karbonfasergewebe für Faserverbundstofftanks
|
- H2-Produktion von 130.000 tpa (bis 2023)
|
Was bisher erreicht wurde
Trotz der Abwahl der liberalen Regierung, welche das nationale Projekt Wasserstoff erst angeschoben hatte, scheint man sich in Südkorea auf das Thema Wasserstoff parteiübergreifend verständigt zu haben, auch wenn es keine Einigung über die Farbe des sauberen Wasserstoffes gibt. Die Einigkeit in der Sache H2-Technologie ist schon ein großer Erfolg.
Der Bereich, in dem Erfolge am deutlichsten sichtbar sind, ist die Mobilität. Mehr als 30 Prozent der weltweit verkauften H2-Fahrzeuge sind auf koreanischen Straßen unterwegs, von denen die allermeisten mit einem Hyundai-Logo versehen sind. Auch der Ausbau der Infrastruktur geht in Südkorea aktuell am schnellsten voran: Mehr als 130 H2-Tankstellen kann man in Korea ansteuern.
Der H2-Technologiesektor kann sich sehen lassen: Bis Mai dieses Jahres konnte H2Korea insgesamt 44 Unternehmen als Wasserstoff-Spezialunternehmen zertifizieren. Man kann davon ausgehen, dass mittlerweile mehr als 90 Prozent aller Schlüsselkomponenten des H2-Sektors von der heimischen Industrie geliefert werden können.
Abb. 2: Diesen Sommer wurden die insgesamt 27 Hyundai XCIENT Fuel Cell per Schiff direkt aus dem Hyundai-Werk in Südkorea nach Deutschland geliefert.
Quelle: Hyundai
Woran es in Südkorea allerdings noch mangelt, ist saubere Energie. Aktuell werden noch mehr als 60 Prozent der Energie aus Kohle und Gas gewonnen, ca. 30 Prozent entfallen auf Kernenergie, und nur rund fünf Prozent werden aus regenerativen Quellen wie Wind-, Solar- oder Wasserkraft gewonnen. Die südkoreanische H2-Produktion von jährlich rund 200.000 Tonnen beschränkt sich dementsprechend fast ausschließlich auf die Reformierung und Abspaltung von Kohlenwasserstoffen. Es handelt sich also um größtenteils blauen, aber auch grauen Wasserstoff.
Man kann also konstatieren, dass man in Südkorea mit einer langfristigen politischen Entscheidung und massiven Investitions- und Förderungsmaßnahmen ein solides Fundament für den Aufbau einer durch Importe ergänzten grünen H2-Wirtschaft geschaffen hat. Die zu errichtende grüne Wasserstoffwirtschaft gleicht, metaphorisch gesprochen, aktuell jedoch noch einer großen Baustelle, auf der dichte Staubwolken den Ausblick auf die Farbe und die Konturen des neuen Bauwerks verdecken. Erst wenn sich der Staub legt, wird man sehen, wie sich Farbe und Konturen wirklich darstellen.
Ausblick: Was macht die neue Regierung?
Vieles von dem, was heute umgesetzt wird, geht auf die Regierungszeit der liberalen Moon-Regierung zurück, welche zwischen Mai 2017 und Mai dieses Jahres in der Regierungsverantwortung war. Unter anderem hat diese noch eine Reform des Wasserstoffgesetzes, welches just zum Regierungswechsel verabschiedet wurde, auf den Weg gebracht. Im Kern ging es hierbei – analog zu Europa – um die Festlegung einer gesetzlich verbindlichen Taxonomie zum Begriff des sauberen Wasserstoffes, also Wasserstoff „ohne“ oder „mit wenig“ Treibhausgasemissionen. Ähnlich wie in Europa handelt es sich also um nicht rein grünen Wasserstoff.
Des Weiteren hat man sich darauf geeinigt, den Preis für Gas, welches für die Produktion von Wasserstoff bestimmt ist, per Gesetz preislich zu deckeln. Am allerwichtigsten ist allerdings die sogenannte „Clean Hydrogen Portfolio Standards“-Regelung (CHPS-Regelung), in deren Rahmen Versorger sowie andere Marktteilnehmer mit Quoten zur Herstellung, Verstromung und Abnahme von Wasserstoff verpflichtet werden. Die Stimmung an der Börse und in der Branche war dementsprechend gut.
Allerdings hat die jüngst gewählte konservative Regierung um Präsident Yoon nun wieder den Ausbau der Atomenergie ins Spiel gebracht, was in der Branche gemischte Reaktionen auslöst. Zwar bekennt sich die neue Regierung in ihrem Strategiepapier zur Weiterführung des Ausbaues der Wasserstoffwirtschaft, allerdings stellt sich die Frage, ob der Pragmatismus die Klimawende wirklich beschleunigt oder ob das Gegenteil der Fall sein wird.
Autor:
Moritz Haarstick
Seoul National University, KOTRA (Korea Trade-Investment Promotion Agency), Hamburg
moritz.haarstick@kotra.de
Abb. 1: Eui-sun Chung (Hyundai Motor Group), Tae-won Chey (SK Group), Jeong-woo Choi (POSCO) und Hyun-joon Cho (Hyosung Group) vorm Hyundai H2-Truck [SG1]
[SG1]Hyundai Motor Group Chairman Eui-sun Chung, SK Group Chairman Tae-won Chey, POSCO CEO Jeong-woo Choi, and Hyosung Group Chairman Hyun-joon Cho are taking photos in front of Hyundai Motor’s hydrogen fuel cell truck
von Sven Geitmann | Okt. 31, 2022 | 2022, Allgemein
Es herrscht wahre Goldgräberstimmung: Zahlreiche Konzerne übernehmen Mittelständler oder gründen Joint Ventures (s. S. 6) – viele Großunternehmen investieren Millionen, um sich ein Stück von dem H2-Kuchen zu sichern. Der Weltmarkt für Wasserstoff wird jetzt aufgeteilt, zumindest der Anteil, der nicht ohnehin schon in den vergangenen Monaten einkassiert wurde.
Ein Beispiel für diesen globalen Wettstreit ist im brandenburgischen Jänschwalde zu finden: Mitte Juli gab die Wiesbadener Firma Hy2gen bekannt, dass dort 500 Mio. Euro in die Produktion von grünem Wasserstoff und nachhaltigem Flugzeugtreibstoff investiert werden sollen. Die Anlage soll bis 2027 auf dem geplanten Green Areal Lausitz entstehen.
In Mecklenburg-Vorpommern wird ebenfalls investiert. Die HH2E AG und die Schweizer MET Group gründeten gemeinsam eine Projektgesellschaft für die Entwicklung einer der größten Anlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff in Europa. In Lubmin sollen bis 2025 100 MW für die Produktion von 6.000 tH2/Jahr aufgebaut werden, die bis 2030 auf 1 GW hochskaliert werden könnte. Rund 200 Mio. Euro sollen dafür bereitgestellt werden.
Ebenfalls im Juni hatten Ceres Power und Shell verlautbaren lassen, dass sie gemeinsam eine Demonstrationsanlage eines Festoxidelektrolyseurs (SOEC) im Megawattbereich in Bangalore, Indien, aufbauen wollen. Ziel ist die Bereitstellung von kostengünstigem grünem Wasserstoff für die industrielle Dekarbonisierung. Der Brennstoffzellenhersteller Ceres hat 100 Millionen Pfund für die Entwicklung seiner SOEC-Technologie bereitgestellt – mit dem Ziel, bis 2025 marktführend nivellierte Wasserstoffkosten von 1,5 $/kg zu erreichen.
Anfang des Jahres übernahm Voss Fluid die österreichische HypTec GmbH. Durch diesen Zukauf sichert sich der Hersteller von Rohrverbindungssystemen den Zugriff auf Hochdruckkomponenten für H2-Anwendungen. Die 2010 gegründete HypTec verfügt über Ventiltechnik, die trotz hoher Drücke klein und leicht ist – wichtige Voraussetzungen für die Hochskalierung von H2-Komponenten.
Bereits im Januar 2022 hatten Fortescue Future Industries und Covestro eine langfristige Liefervereinbarung für grünen Wasserstoff abgeschlossen. Die Rede ist von bis zu 100.000 Tonnen Grüner-Wasserstoff-Äquivalente pro Jahr, die ab 2024 beispielsweise per Ammoniak von Australien nach Europa transportiert werden könnten. Bis 2030 will FFI die Produktion von grünem Wasserstoff auf jährlich 15 Mio. Tonnen steigern.
Und Ende August ließ der ehemalige Microsoft-Chef Bill Gates verkünden, dass sich die von ihm gegründete Investorengruppe Breakthrough Energy Ventures an dem dänische Brennstoffzellenhersteller Blue World Technologies mit 37 Mio. Euro beteiligt. Der deutsche Motorenhersteller Deutz war zuvor bereits mit 7,5 Mio. Euro eingestiegen.
Abb.: Gründer-Team von Blue World Technologies
Quelle: Blue World Technologies
von Sven Geitmann | Okt. 31, 2022 | 2022, Allgemein
Simulations-Tool zur Förderung der regionalen Beteiligung
Die Beteiligung unterschiedlichster Akteure an gesellschaftspolitischen Transformationsprozessen ist unabdingbar für den Erfolg und die Akzeptanz der entwickelten Lösungen. Je nach Herkunft, Qualifikation und Interessenslagen existieren jedoch unterschiedliche Sichtweisen auf die Problemstellung und mögliche Gestaltungsansätze. Alle Perspektiven frühzeitig in die Entscheidungsprozesse zur Ausgestaltung der regionalen Energiewende einzubinden, erfordert eine Befähigung der regionalen Akteure, die technischen und wirtschaftlichen Potentiale der Wasserstofftechnologien im jeweiligen regionalen Kontext zu erkennen und zu verstehen.
Nicht erst seit der aktuellen Gaskrise wird deutlich, dass sich zentrale Annahmen und Rahmenbedingungen der Energiewende rasch ändern können und sich heute noch attraktiv erscheinende Lösungsansätze morgen als nicht zuverlässig oder wirtschaftlich realisierbar herausstellen. Entscheidungen zu Investitionen in Energieinfrastrukturen mit einem geplanten Betriebszeitraum von 15 bis 20 Jahren müssen diese Unsicherheiten berücksichtigen – umso wichtiger ist es, die Auswirkungen von sich ändernden Rahmenbedingungen abschätzen zu können.
Aus diesem Gedanken heraus entstand in einer Zusammenarbeit der Spilett new technologies und der Akteure des Kreises Steinfurt im Jahr 2016 die Idee eines Szenarienrechner-Tools für Wasserstoffregionen. Die beteiligten Akteure formulierten erste Ideen, wie regionale Entscheidungsfindungsprozesse unter unsicheren Bedingungen besser unterstützt werden könnten und definierten somit die Anforderungen inhaltlicher und konzeptioneller Art. Schnell wurde klar, dass ein vollständig parametrisierbares Optimierungsmodell erforderlich sein würde, das für die unterschiedlichen Zielgruppen (Experten der Energiewirtschaft, Fachlaien) die Komplexität der Thematik reduziert und gleichzeitig ausreichend detaillierte und belastbare Informationen für die Entscheidungsfindung liefert.
Im Jahr 2019 konnte die Toyota Mobility Foundation als Sponsor für die Entwicklung des H2-Szenarienrechners gewonnen werden. Unter konzeptioneller Leitung der Spilett new technologies GmbH wurde das Open-Source-basierte Onlinetool im Zeitraum 2019 bis 2022 gemeinsam mit den Modellierern der BBH Consulting AG, den Software-Entwicklern der ENDA GmbH & Co. KG und den Akteuren des energieland2050 im Kreis Steinfurt entwickelt und validiert.
Funktionsweise des H2-Szenarienrechners
Der H2-Szenarienrechner ermöglicht regionalen Entscheidungsträgern, in einem ersten Schritt ein kostenoptimiertes H2-Infrastruktursystem durch individuelle Konfigurationen zu identifizieren (regionale Energienachfrage, verfügbare Ressourcen und politische Zielstellungen). Das Ziel ist, die Wasserstoffnachfrage der unterschiedlichen Sektoren unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit und unter gegebenen regionalen Rahmenbedingungen auf stündlicher Basis für ein definiertes Zieljahr zu gewährleisten
Die mit dem Aufbau sowie dem Betrieb des kostenoptimierten Infrastruktursystems verbundenen wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Kosten beziehungsweise Nutzen werden in einem zweiten Schritt detailliert aufgeschlüsselt und dargestellt. Hierbei wurde ein zweistufiger Ansatz gewählt:
• Zehn zentrale Kenngrößen geben einen Überblick über die wichtigsten ökonomischen und ökologischen Leistungsparameter des jeweiligen Infrastruktursystems („Systemkennzahlen KPIs“, s. Abb. 2).
• Nach Leistungsbereichen aufgeschlüsselte Informationen und Kenngrößen (Energie- und Stoffstrombilanzen, Wirtschaftlichkeit, gesellschaftlicher Nutzen) vertiefen das Verständnis.
Die Ergebnisse im Bereich Energie- und Stoffstrombilanzen umfassen jahresbilanzielle und zeitlich aufgeschlüsselte Übersichten zur Wasserstoff- und Stromherkunft sowie zu deren jeweiligem Verbleib. Die Befüllung und Entnahme von Wasserstoff aus den regionalen Speichern werden hierbei ebenso wie der Im- und Export von Strom und Wasserstoff zur Deckung temporärer Engpässe mit angezeigt.
Darüber hinaus werden die benötigten Wassermengen für die Produktion von Wasserstoff via Elektrolyse oder Dampfgasreformierung ausgewiesen, um in Zeiten beziehungsweise in Regionen mit knappen Wasserressourcen keine Nutzungskonkurrenzen entstehen zu lassen. Die bei der H2-Produktion entstehende Abwärme wird ebenfalls stündlich aufgeschlüsselt und dient der Entscheidungsunterstützung bei der Standortfindung von Produktionsanlagen.
Die Ergebnisse im Bereich Wirtschaftlichkeit umfassen Angaben zu betriebswirtschaftlichen Kennzahlen (u. a. Kapitalwert, Rendite, Amortisationsdauer und Umsätze), zu den Wasserstoffgestehungskosten (aufgeschlüsselt nach Investitionskosten, fixen und variablen Betriebskosten, CO2-Kosten sowie Steuern, Umlagen und Abgaben) und zu den Auslastungsgraden der installierten Anlagen (in Volllaststunden je Anlage).
Die Ergebnisse im Bereich gesellschaftlicher Nutzen beinhalten Informationen zur erwarteten direkten regionalen Wertschöpfung aus dem Betrieb des Infrastruktursystems (aufgeschlüsselt in regionale Nettoeinkommen, regionale Gewinne, regionalen Anteil an der Einkommenssteuer und Gewerbesteuer), zur Menge der durch den Einsatz von Wasserstoff eingesparten CO2-Emissionen sowie zu den resultierenden vermiedenen externen Kosten (CO2-Emissionen, NOx-Emissionen des Verkehrssektors).
Zusatzfunktion: Stresstest
Als Ergänzung wurde gemeinsam mit den Steinfurter Akteuren eine „Stresstest-Funktion“ definiert, die es erlaubt, die Auswirkungen von sich ändernden Rahmenbedingungen auf Wirtschaftlichkeit und gesellschaftlichen Nutzen nach Inbetriebnahme der H2-Infrastrukturen zu quantifizieren. Damit können die Nutzer des Szenarienrechners in einem dritten Schritt selbst definieren, welche ökonomischen und ökologischen Konsequenzen sich infolge von Änderungen der regionalen Rahmenbedingungen während der bis zu zwanzig Jahren umfassenden Betriebsphase des H2-Infrastruktursystems ergeben. Außerdem lässt sich dadurch erkennen, welche Handlungsspielräume existieren, die Betriebsergebnisse zu verbessern.
Die Änderungen von Grundannahmen des regionalen Kontextes können einzeln oder in Kombination gewählt werden, ihre jeweiligen Auswirkungen auf die zehn ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Systemkennzahlen (KPIs) werden zur besseren Vergleichbarkeit durch Angabe der prozentualen Änderungen zum Idealwert, dem Ausgangswert, angegeben.
Damit die Akteure in Politik sowie Gesellschaft ein Verständnis darüber entwickeln, wie die Etablierung der regionalen Wasserstoffwirtschaft auch aktiv unterstützt werden kann, enthält der Stresstest auch die Möglichkeit, Gewinnerwartungen zu definieren und anschließend anhand ausgewählter Stellschrauben zu sehen, wohin Entwicklungen gelenkt werden müssen (Zielkosten bzw. Zahlungsbereitschaften). In Abbildung 4 wird exemplarisch für zwei Fragestellungen der Break-even-Fall dargestellt.
Fazit und Ausblick
Der H2-Szenarienrechner wird seit Anfang 2022 in den fünfzehn HyStarter-Regionen des HyLand-Förderprogramms der Bundesregierung eingesetzt und unterstützt dort die regionalen Akteure in der Entscheidungsfindung und Formulierung ihrer jeweiligen Zielsysteme für das Jahr 2030. Im Austausch mit den teilnehmenden Regionen konnten die Eignung und die Aktualität des Tools verifiziert werden. Die von den Steinfurter Akteuren formulierten Fragen an die Wasserstoffwirtschaft wurden von den beteiligten Akteuren der anderen Regionen als vollständig und zielführend bestätigt.
Der gewählte Ansatz der vollständigen Parametrisierung der Eingabewerte ermöglicht es, die aktuelle Energiekrise umfassend abzubilden, indem z. B. die Verfügbarkeit von Erdgas zur Wasserstoffproduktion limitiert und Energiepreise flexibel angepasst werden können. Auch die im Sommer 2022 erlebten Hitzeperioden und Wasserknappheit konnten durch eine Limitierung der Wasserressourcen im Modell abgebildet werden und haben den Akteuren alternative Pfade zur elektrolytischen Wasserstoffproduktion aufgezeigt.
Der H2-Szenarienrechner soll zum Jahresende allen interessierten Regionen zur Verfügung gestellt werden. In der Zwischenzeit können sich interessierte Wasserstoffregionen beim Projektteam melden und einen Probezugang erhalten (szenarienrechner@spilett.com).
Autoren:
Nadine Hölzinger
Spilett n/t GmbH
nadine.hoelzinger@spilett.com
Andy Fuchs
Toyota Mobility Foundation Europe
Andy.Fuchs@toyota-europe.com
Abbildung 1: Ergebnisübersicht – kostenoptimiertes Infrastruktursystem