Schneller skalieren

Schneller skalieren

Interview mit Tassilo Gast von Emerson

Wenn Wasserstoff die Welt verändern soll, müssen die entsprechenden Industrien ihre Kapazitäten in wenigen Jahren massiv ausbauen. Das geht nur, wenn man auf vorhandenes Wissen aufbaut. Was beim Skalieren und Automatisieren wichtig ist, erklärt Tassilo Gast vom Automatisierungsspezialisten Emerson im HZwei-Interview.

HZwei: In den kommenden Jahren wird die H2-Wirtschaft sehr schnell wachsen müssen. Worauf müssen Unternehmen, zum Beispiel Hersteller von Elektrolyseuren, dabei besonders achten?

Gast: Bei den Elektrolyseprojekten, die in den Nachrichten angekündigt werden, geht es um Größenordnungen von 100 Megawatt bis hin zu 1 Gigawatt. Bisher installierte Elektrolyseure haben meistens elektrische Leistungen von 2 oder 5 MW. Das ist ein Wachstum um ein Vielfaches und damit eine große Herausforderung für die Hersteller.

Elektrolyseure sind in aller Regel modular aufgebaut. Bei der Skalierung bleibt dieses Prinzip größtenteils bestehen, schon allein, weil die Größe der Stacks physikalisch und elektrochemisch begrenzt ist. Gängig sind heutzutage Stacks mit etwa 2,5 MW elektrischer Leistung. Selbst wenn ein Stack in Zukunft zehn Megawatt hätte, bräuchte man für einen 100-MW-Elektrolyseur zehn davon, für ein Gigawatt-Projekt Hunderte. Wenn ich also zehn Module einfach nebeneinanderstelle, nach dem Prinzip „scale up by numbering up“, habe ich zehnmal so viele Schnittstellen, zehnmal so viele Kabelkanäle und so weiter. Das alles zu verkabeln, zu balancieren und zu steuern, ist sehr komplex. Man muss folglich die Systemarchitektur überdenken.

Nehmen wir eine große Elektrolyseanlage – wie würde eine gelungene Skalierung mit angepasster Systemarchitektur aussehen?

Wichtig ist, dass sich jemand frühzeitig das Gesamtsystem anschaut. Im Falle von Emerson haben wir dafür eine eigene Business Unit für Systeme. Theoretisch könnten die Hersteller das auch selbst machen, aber sie haben in der Wachstumsphase oft gar nicht die Kapazität, selbst diesen Schritt zu gehen beziehungsweise zurückzutreten und das große Ganze in den Blick zu nehmen.

Je nach Skalierungsfaktor kann es dann zunächst um kleinere Schritte gehen, zum Beispiel das Zusammenfassen von Bilanzkreisen. Ab einer bestimmten Größe, spätestens bei einigen Hundert Megawatt, wird man aber ganz anders bauen müssen. Dann kann man die Module nicht mehr in einzelnen Containern installieren, wie man es bei den kleineren Anlagen macht – schon allein, weil die Container in Summe zu teuer würden. Stattdessen baut man eine Anlage mit den Stacks in einem Bereich und den dazugehörigen umgebenden Anlagenteilen, zum Beispiel der Wasseraufbereitung, wie bei Greenfield-Projekten. Der Elektrolyseur würde also ähnlich geplant wie eine klassische Chemieanlage, auf offenem Feld – oder überdacht – mit getrennten Prozess- und Anlagenteilen. Wenn wir an so einem Prozess beteiligt sind, ist eine enge Zusammenarbeit sehr wichtig. Man muss sehr tief gemeinsam in den Prozess hineinschauen, damit es wirklich gelingt, Effizienzpotenziale zu heben und die Markteinführung zu verkürzen.

Gibt es neben der Redundanz von Komponenten und der räumlichen Anordnung noch weitere Probleme bei der Skalierung, die man mit entsprechender Planung vermeiden kann?

Ja, die gibt es, zum Beispiel in Bezug auf die Sicherheit. Wasserstoff ist ja ein explosives Gas. Und mit der Anlagengröße steigt auch die Menge des Gases und damit auch das Gefahrenpotenzial für umgebende Areale. Geräte und Armaturen müssen Sicherheits- und Abschaltrichtlinien entsprechen, im Störfall muss ein sicheres Herunterfahren möglich sein. Es gibt spezielle Software von AspenTech, die seit 2022 zu Emerson gehören, die dabei hilft, eine Anlage virtuell zu skalieren, und die auf absehbare Bottlenecks und Sicherheitsaspekte hinweist.

Welche Rolle kann ein digitaler Zwilling in so einer virtuellen Skalierung spielen?

Der Begriff „Digitaler Zwilling“ wird sehr unterschiedlich gebraucht. Im einfachsten Fall spricht man von einem virtuellen Abbild der Anlage. Der nächste Schritt ist, das digitale Abbild mit Daten aus dem laufenden Prozess zu speisen. So kann man abgleichen, ob die Simulation der Realität entspricht. Digitale Zwillinge von Emerson sind in der Lage, Daten aus der Simulation heraus mit Reaktionen von Feldinstrumenten und Steuerungselementen aus dem Feld abzugleichen und somit das Verhalten des Prozesses vorwegzunehmen. Das hilft zum Beispiel Elektrolyseherstellern oder EPCs ungemein, wenn es darum geht, die Skalierungseffekte von größer werdenden Anlagen vorab zu bewerten. Letztendlich ermöglicht das eine bessere Betriebsführung – mit höherer Effizienz, geringeren Kosten und einer höheren Lebensdauer der Komponenten.

Haben Sie denn schon eine solche Skalierung bei einem Elektrolyseurhersteller umgesetzt, so dass Sie von den Erfahrungen berichten können?

Erste Projekte in der Wasserstoffbranche haben wir global sehr viele. Zum Beispiel haben wir die weltgrößte PEM-Elektrolyseanlage mit Steuerung, Ventilen und Instrumenten ausgestattet. Sie steht bei Air Liquide in Bécancour, Kanada. Auch die Einbindung in den örtlichen Chemieprozess hat Emerson umgesetzt.

Wir können dabei auf unser Know-how aus anderen Branchen zurückgreifen. Ganz gleich, welche Elektrolysetechnologie – PEM, alkalische, AEM – zum Einsatz kommt, skalierte Elektrolyseure brauchen alle zum Beispiel sehr viel Wasser. Das Wasser muss demineralisiert und zum Elektrolyseur transportiert werden und dort mit der richtigen Temperatur und dem richtigen Druck ankommen. Wir kümmern uns darum, alle diese Größen zu messen, die passenden Ventile und Armaturen zu finden und den Prozess zu steuern – über den Elektrolyseur über die Gastrennung und -trocknung bis hin zur Gasanalytik am Ende, um zu prüfen, welcher Qualitätsstufe der Wasserstoff entspricht.

Die Stack-Produktion ist grundsätzlich schon weit automatisiert. Die Bipolarplatten werden zum Beispiel automatisch verschraubt. Auch dabei kommen teilweise Emerson-Komponenten zum Einsatz, zum Beispiel, um Bauteile mit Druckluft in eine bestimmte Position zu bringen.

Für welche Firmen in der Wasserstoffbranche ist die Automatisierung oder sonstige Optimierung zusammen mit Emerson denn außerdem interessant?

Wir sind in der gesamten Wasserstoffwertschöpfungskette aktiv: In der H2-Erzeugung, im Transport und der Verteilung sowie bei den Endverbrauchern. Ein Endverbraucher von Wasserstoff kann ein großer Chemiekonzern, Stahlkonzern oder eine Raffinerie sein, aber auch ein Unternehmen aus den Branchen Papier, Life Science und Zement. Wir haben zum Beispiel bei einem unabhängigen Betreiber aus Südkorea ein System aus zahlreichen H2-Tankstellen installiert. Er sieht nun genau, wie viel Wasserstoff zu welcher Zeit an welchen Tankstellen benötigt wird, wie viele Tankvorgänge stattfinden, ob irgendwo Probleme auftreten und welche logistischen Maßnahmen er zu treffen hat, um seine Lieferlogistik an den Bedarf anzupassen. Solche übergeordneten Steuerungen und Systemarchitekturen zur Aufnahme von Daten und Signalen spielen auch in großen Projekten der Sektorenkopplung eine Rolle, bei denen von der Erzeugung von grünem Strom mit Wind oder Photovoltaik über die Erzeugung von Wasserstoff durch Elektrolyse bis hin zur Verteilung über Pipelines und Tankstellen oder an Brennstoffzellen alle Schritte überwacht und aufeinander abgestimmt werden können.

In einem anderen Fall haben wir eine komplette Mischstation für die Einspeisung von Wasserstoff ins Erdgasnetz geliefert. Dabei haben wir mit einem Partner aus dem Anlagenbau zusammengearbeitet. Für einen Hersteller von Wasserstoffanlagen und EPCs ist das von großem Vorteil. Er verfügt über einen zentralen Ansprechpartner für alle Aspekte der Automatisierung, der alles aus einer Hand liefert. Das ist nicht nur deutlich schneller, sondern bringt auch einen eindeutigen CAPEX-Vorteil auf Seiten des Herstellers.

Geht das alles schnell genug, um den Hochlauf einer Wasserstoffindustrie zu stemmen?

Damit der Hochlauf gelingt, müssen alle Teile der Industrie gemeinsam skalieren. Da hilft kein Silodenken für einzelne Anlagen oder Hersteller. Viele Elektrolyseurhersteller machen bei der Skalierung einfach bereits Bekanntes in mehr und größer. Aber wenn man die Systemarchitektur nicht anpasst, erhöhen sich CAPEX-Kosten, und es bestehen Ineffizienzen, die gar nicht sein müssten. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Gesamtkonzept Automatisierung, jenseits der Entwicklung neuer Membranen oder sonstiger Forschungsaufgaben, hat ein hohes Potenzial zur Kostensenkung. Um das zu heben, muss man frühzeitig vielerlei Ideen und Konzepte prüfen und benötigt einen Automatisierungspartner mit einem kompletten Portfolio. Alle müssen ihren Partnern gegenüber so weit wie möglich mit offenen Karten spielen, um gemeinsam Potenziale zu identifizieren.

Können wir es mit einer guten Automatisierung in Deutschland und Europa schaffen, in der Wasserstofftechnik wettbewerbsfähig zu bleiben?

Wir haben in Europa eine unglaubliche Bandbreite an Firmen und Unternehmen aus der Wasserstoffwirtschaft, speziell in Deutschland. Die Technologien dieser Firmen haben einen sehr hohen technologischen Reifegrad – die Anlagen werden global exportiert. Es gibt viele Firmen mit viel Know-how. Selbst wenn die Personalkosten hier höher sind, fällt das gegenüber einem anderen Aspekt kaum ins Gewicht. Das Problem sind vielmehr die Regularien und die Politik. In den USA gibt es beispielsweise den Inflation Reduction Act, bei dem die Firmen sehr viel Unterstützung bekommen, wenn ihre Wertschöpfung in den USA liegt. Das zielt insbesondere auf Unternehmen aus den Bereichen Umwelt und Nachhaltigkeit, wie zum Beispiel Hersteller von Wasserstoffanlagen oder Teilbereiche der Wasserstoffwertschöpfungskette. Das ist wegweisend für die europäische Industrie, das heißt, hier muss Europa dringend nachsteuern.

Ein anderes Thema ist, dass die Genehmigungen für Projekte und Anlagen in Europa viel zu lange dauern und zu verschieden sind. Ein einheitliches Regelwerk würde vieles vereinfachen. Aber nicht nur bei den Genehmigungen, auch bei anderen politischen Zusagen, wie zum Beispiel Förderungen und Vorgaben oder Zielen, dauert es in Europa sehr lange. Ein Beispiel ist die RED-III-Richtlinie. Die EU hat nun höhere Gesamtziele verkündet und die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren fortgeschrieben. Trotzdem dauern die Verfahren noch zu lange. Wenn die Industrie der Wasserstoffwirtschaft in Europa und in Deutschland bleiben und weiter skalieren soll, muss hier also vieles schneller werden.

Zur Person:

Tassilo Gast ist Emerging Market Business Development Manager für die Region DACH (Deutschland, Österreich, Schweiz) bei Emerson. Das Unternehmen mit rund 70.000 Beschäftigten weltweit ist auf Automatisierungslösungen spezialisiert. Zu seinen Angeboten gehören Hardware wie Ventile und Messtechnik, Software für Simulation und Betriebsführung sowie Dienstleistungen wie Beratung und Planung. Im Mai 2022 erlangte Emerson eine Mehrheit an der Firma AspenTech, einem Spezialisten für Software zur Prozesssimulation. Emerson ist für Kunden verschiedener Branchen tätig, von der Brauerei bis zur Raffinerie. Auch in der Wasserstoffbranche hat Emerson viele Kunden. Der Hauptsitz des Unternehmens liegt in Saint Louis im US-Bundesstaat Missouri.

H2 ist Trend

H2 ist Trend

Wasserstoff ist derzeit – zumindest im Energiesektor – in aller Munde. Dies lässt sich auch anhand der Trendforschung nachweisen. So bietet der US-Konzern Google einen Online-Dienst an, der Informationen darüber bereitstellt, welche Begriffe bei der Nutzung der Google-Suchmaschine über die Zeit wie häufig eingegeben werden. Die Ergebnisse werden in Relation zum totalen Suchaufkommen gesetzt und sind in wöchentlicher Auflösung seit 2004 verfügbar.

Sehr plakativ lässt sich mit diesem Tool veranschaulichen, wie groß das Interesse an gewissen Themen war und ist. So ist unter anderem zu erkennen, dass das Keyword „Wasserstoff“ seit Ende 2018 deutlich häufiger gegoogelt wird als in den 15 Jahren zuvor. In den Jahren 2020 und 2021 gab es jeweils Peaks. Insgesamt ist die Popularität dieses Begriffs seitdem auf einem relativ hohen Niveau.

Nach „Wasserstoff“ wird deutlich häufiger gesucht als beispielsweise nach „Elektromobilität“, „Brennstoffzelle“, „Windkraft“ oder auch nach „Digitalisierung“. Noch beliebter ist hingegen – abgesehen von den Peak-Phasen 2020 und 2021 – „Photovoltaik“. Auch das englische Wort „hydrogen“ wird für sehr viel mehr Suchanfragen verwendet (s. Abb.) als beispielsweise „fuel cell“, „digitizing“ und „photovoltaic“ oder selbst „PV“, wobei „hydrogen“ über die fast 20 Jahre fast immer gleich beliebt war, während nach „fuel cell“ Anfang des Jahrhunderts sehr viel mehr geforscht wurde.

https://trends.google.com

Deutschland bekommt Steuerkreis für H2-Normung

Deutschland bekommt Steuerkreis für H2-Normung

Normung ist zwar ein sehr trockenes, aber auch ein sehr wichtiges Thema – insbesondere, wenn ein komplett neuer Wirtschaftszweig etabliert werden soll. Aus diesem Grund haben verschiedene Institutionen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Anfang August 2023 einen Steuerungskreis für Wasserstoffnormung ins Leben gerufen.

Wie es in einer Pressemeldung heißt, ist dieses 26-köpfige Gremium für die „strategische Begleitung der Arbeiten an der Normungsroadmap Wasserstofftechnologien“ gedacht. Ziel ist, durch eine „abgestimmte Vorgehensweise für die technische Regelsetzung den Ausbau von Wasserstofftechnologien in Deutschland zu beschleunigen“ und eine Wasserstoffroadmap auf den Weg zu bringen, durch die der Ausbau einer Wasserstoffwirtschaft sowie einer entsprechenden -infrastruktur unterstützen werden soll.

Zur Leiterin dieses Steuerkreises wurde Dr. Kirsten Westphal, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), gewählt. Westphal erklärte: „Die Roadmap wird dabei helfen, Bedarfe zu identifizieren und konkrete Umsetzungsprojekte im Bereich der technischen Regelsetzung von Wasserstofftechnologien direkt zu initiieren.“

Institutionelle Unterstützung erhält das Gremium vom Deutschen Institut für Normung (DIN), Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW), Verein für die Normung und Weiterentwicklung des Bahnwesens (NWB), Verband der Automobilindustrie (VDA), Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sowie von der Deutschen Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (DKE). Finanzielle Förderung kommt seit Januar 2023 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Die offizielle Auftaktveranstaltung zu diesem bis November 2025 laufenden Verbundprojekt fand im März 2023 online mit 1.300 Teilnehmenden statt. Die geplante H2-Roadmap soll jetzt in insgesamt 39 Arbeitsgruppen in einem „offenen und transparenten Prozess“, an dem sich „alle Interessierten beteiligen können“, erarbeitet werden. Ein erster Entwurf soll im Sommer 2024 vorliegen.

www.normungsroadmap-h2.de

DWV wieder eigenständig

DWV wieder eigenständig

Seit August 2023 wird der Deutsche Wasserstoff- und Brennstoffzellen-Verband (DWV) e.V. wieder allein von Werner Diwald vertreten. Thorsten Kasten, der vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. entsendete Vertreter, schied Ende Juli aus dem DWV-Vorstand aus und gab somit auch seinen Posten als gleichberechtigter zweiter Vorstandsvorsitzender ab. Gemäß Mitteilung des DWV sind damit die Restrukturierungs- und Professionalisierungsmaßnahmen der vergangenen zwei Jahre nunmehr abgeschlossen.

DVGW und DWV waren in den vergangenen Jahren zeitweise aufeinander zugegangen, um enger miteinander zu kooperieren (s. HZwei-Heft Jan. 2019), was unter anderem in einem „erfolgreichen Aufbau der Geschäftsstelle“ sowie eines „schlagkräftigen Teams“ in Berlin mündete, wie es vom DWV hieß. Es werde auch weiterhin eine Zusammenarbeit zwischen den Verbänden geben, ist zu hören. Aber die ursprünglich anvisierte engere Kooperation ist mit dem Ausscheiden Kastens endgültig vom Tisch.

Ein Wasserstoffsystem für jedermann

Ein Wasserstoffsystem für jedermann

Das polnische Virtud

Vor rund 20 Jahren weckte das Sonnenenergie- und Passivhauskonzept die Begeisterung des Ehepaares Napierała. Die beiden fuhren damals regelmäßig nach Freiburg und lernten dort die Pioniere der Photovoltaiktechnologie kennen. „Ich habe dort sehr viele Ideen mitbekommen. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Bei den Messen kamen wir zusammen und haben unsere Visionen und Gedanken ausgetauscht. Es war eine fantastische Stimmung“, schwärmt Piotr Napierała. Insbesondere die Passivhausidee hat ihn bis heute geprägt. Sein Augenmerk liegt stets auf den Vorteilen effizienter Mikronetze und energetischer Insellösungen. „Das ist einfach das, was mich begeistert. Bei meinen Besuchen in Freiburg habe ich mich gern mit den Lösungen von Hydrogenics beschäftigt und mit Leuten dort darüber diskutiert. Ich mag kleine, geschlossene Strukturen, die ich optimieren kann“, erzählt der gelernte Physiker.

Dorota und Piotr Napierała haben ihr Ziel klar vor Augen: Mit dem Wasserstoffhaus von Virtud sollen dessen jährlichen Energiekosten bei nicht mehr als 500 zl liegen, was ungefähr 123 Euro entspricht. Piotr hält nichts von Großprojekten und ist auch nicht von den überdimensionierten Wasserstoffplänen vieler prominenter Großunternehmen überzeugt. Er glaubt, dass sich in vielen kleinen Schritten und mit passgenauen Maßnahmen vor Ort, insbesondere mit Wasserstoff, viel erreichen lässt.

Großes Potential in der polnischen PV-Branche

Ehepaar Napierała empfängt seine Geschäftspartner und Interessenten in einem schönen, weißen Neubau in einem Vorort von Poznań auf dem Firmengelände von Virtud. Die beiden Inhaber eines Photovoltaikinstallationsbetriebs besaßen in der Vergangenheit schon mehrere Unternehmen in der Erneuerbare-Energien-Branche. Seit 2015 sind sie auf PV-Technik spezialisiert. Die Entwicklung des Virtud-Wasserstoffsystems verstehen die Eheleute als logische Weiterentwicklung zur Verbreitung erneuerbarer Energien in der ganzen Welt – speziell in Polen, wo die Photovoltaikbranche gerade boomt.

Ende Januar dieses Jahres betrug die Gesamtleistung installierter PV-Anlagen bei dem östlichen Nachbarn Deutschlands insgesamt über 12,5 GW. Im Jahr davor lag sie noch bei 7,6 GW. Damit hat sich die Photovoltaikleistung in Polen binnen eines Jahres fast verdoppelt. Auf Sonnenenergie entfällt damit gut 54 Prozent der gesamten Erneuerbare-Energien-Leistung in Polen.

Autoakkus als Solarstromspeicher

Mit der massiven Steigerung der Stromproduktion aus Photovoltaik kommen aber auch große Herausforderungen auf die Branche zu. Es geht vor allem um die Energiespeicherung in den Nachtstunden und während der sonnenarmen Jahreszeiten Herbst und Winter.

Virtud hat diese Probleme auf eine interessante Art gelöst. Statt horrende Summen für Energiespeicher auszugeben, hat das Unternehmen für eine relativ kleine Summe große Mengen an gebrauchten Batterien aus dem in Polen beliebten Nissan Leaf ersteigert. Die Batterien werden zu Blöcken zusammengefügt, die die tagsüber produzierte Solarenergie speichern und in den Nachtstunden wieder abgeben können. Der Unternehmer rechnet vor, dass der Preis der Lösung mit den E-Autobatterien lediglich einem Zwölftel des Preises für einen neuen Energiespeicher entspricht.

Wenn man aber die Schwankungen zwischen den Sommer- und Wintermonaten überwinden will, reichen die Batterien nicht aus. In diesem Fall ist Wasserstoff gefragt. „Mithilfe von Sonne und Wind produzieren wir grünen Wasserstoff, der in den Zeiten des Jahres, in denen der Bedarf am größten ist, als Energieträger dienen wird”, erklärt Piotr Napierała.

Weiterentwicklung der Energiebranche

Dass sich die erneuerbaren Energien stetig weiterentwickeln und der Wasserstoff nur ein logischer Schritt ist, davon sind die Napierałas überzeugt. Als Unternehmer haben sie in Polen schon mehrere Etappen der Entwicklung der Erneuerbaren mitgemacht und immer wieder festgestellt, wie dynamisch dieser Prozess abgelaufen ist. Das gilt auch für die bürokratischen und rechtlichen Aspekte, wie Dorota Napierała ausführt. Sie ist für alle Genehmigungen und Anträge im Unternehmen verantwortlich. „Beim Wasserstoff liegt ein langer Weg des Lernens vor uns“, sagt sie.

In Polen wurden in den letzten Jahrzehnten viele sehr komplexe Gesetze zu erneuerbaren Energien erlassen. Im Jahr 2014 wurde die Einspeisung des Stroms ins Netz möglich gemacht. Für die Buchhaltung und Verwaltung war das eine ganz neue Welt. Frau Napierała hat viel Zeit mit Gesprächen und Telefonaten mit den zuständigen Behörden verbracht, bis beide Seiten die neuen Gesetze verinnerlicht hatten. „Es ist immer ein Lernprozess. Wir lernen voneinander. Beim Wasserstoff wird es ähnlich sein. Die Behörden sind heute viel offener geworden. Bei Fragen und Unklarheiten rufen sie sogar an, und man geht die Formulare nochmals durch. Wir sind seit Jahren in einem beidseitigen Lern- und Kommunikationsprozess. Das macht alles leichter”, erklärt die Mitinhaberin von Virtud.

Ein Modell für die Zukunft

In dem 200-m2-Haus, das die Napierałas energetisch durchoptimieren und als Modellhaus präsentieren, fallen nicht nur die Nutzung der Sonnenenergie und eine Wärmepumpe auf, sondern auch der große Raum rechts des Eingangs. Hier steht ein 2,4-kW-Elektrolyseur des deutschen Herstellers Enapter, das erste von Piotr Napierała eingebaute Gerät. „Es sollen noch viele, viele weitere folgen“, sagt der Mittvierziger. Im Modulschrank sind noch weitere Geräte installiert, die unter anderem das Wasser reinigen. Es ist aber noch ausreichend Platz für weitere Elektrolyseure da.

Aus dem Vorführraum wird gerade ein Zugang zum H2-Speicher gelegt. Der Tank ist schon bestellt. Dann wird es möglich sein, Fahrzeuge mit Wasserstoff zu betanken. Das ist der nächste Schritt, an dem Piotr Napierała arbeitet.